Am 1. Juli 2021 präsentierte der steirische Historiker Hans-Peter Weingand die faszinierenden Ergebnisse seiner neuesten Forschungsarbeit, die im Herbst als Buch erscheint. Die Erkenntnisse werfen ein neues Licht auf das frühe 19. Jahrhundert, in dem etwa Sex vor der Ehe gesellschaftlich nicht verpönt war und Frauen sich mehr trauten, als man annehmen würde.

Im ersten Vortrag, der COVID-bedingt seit November 2019 im Verein des Volkskundemuseums möglich war, thematisiert Historiker Hans-Peter Weingand passenderweise nicht nur menschliche Nähe, sondern sogar den intimsten Bereich, wo sich diese ausdrückt: Sexualität. In den meisten historischen Quellen wurde diese nur angesprochen, wenn sie ein Problem darstellte, etwa in Bezug auf sexuelle Devianz. Um mehr über die Ansichten und Praktiken der breiten Bevölkerung zu erfahren, widmete sich Weingand daher einem populären Medium der gesellschaftlichen Masse: Tanzliedern.

Seinem Interesse an der Volkskultur gedenkt eine der Inschriften am Grazer Erzherzog-Johann-Brunnen: “Unvergessen lebt im Volke, der des Volkes nie vergass”. © Peter Pataki

Von Erzherzog Johann gesammelt existiert eine große Liedersammlung, die in dieser Hinsicht bisher noch nicht aufgearbeitet wurde. Erzherzog Johann war sich dabei sehr wohl um den – wie ein zeitgenössischer Beamter es beschreibt – “derb & ausgelassen[en]” Charakter dieser “schmuzzigen Zotten und Possen” bewusst. Ganz bewusst hält er in seinem Aufruf zur Einsendung von Liedern 1819 daher dazu an, “nichts [für] zu gering […] oder anstößig zu halten”. Dementsprechend finden sich unter den Einsendungen von Verwaltungsbeamten daher steirische Lieder wie dieses:

Dangellied
Hansel das weiß i schon,
dass er das Tangeln kann
tangelt’s mir’s besser z’samm
als wie mein Mann

Ebenso wie pumpern, bohren, schubladln, buttern, usw. ist tangeln – im wörtlichen Sinn das Schärfen einer Sense – einer von vielen Euphemismen aus der Arbeitswelt. Einige davon gerieten in Vergessenheit; andere schafften es in den heutigen Sprachgebrauch – so etwa buttern, das zum heutigen pudern wurde.

Hans Thoma – Kinderreigen (1872)

Ein beliebtes Format solcher Lieder war der Stenker, ein frecher Wechselgesang zwischen zwei Personen vor einem Publikum, etwa auf Hochzeiten. Anders als man womöglich annehmen würde, nahmen an dieser historischen Version moderner Rap-Battles allerdings nicht nur Männer, sondern auch Frauen teil. Dies macht einerseits die aktive Rolle der Frau sichtbar; andererseits weisen die Inhalte dieser gesungenen “Kämpfe” dennoch auf die patriarchale Strukturen der Zeit hin: Während Männer als allerhand – dumm, klein oder hässlich – kritisiert werden, werden Frauen stets sexualisiert und dafür verurteilt. Ein interessantes Faktum dabei allerdings: Vorehelicher Sex wurde nicht problematisiert, sondern als etwas vollkommen Normales bewertet, das auch Frauen zustand.

Im Herbst 2021 erscheint Weingands Buch, das neben weiteren interessanten Erkenntnissen auch Liedernoten und Grafiken enthält, die die damalige Zeit zum Leben erwachen lassen – darunter etwa eine selten überlieferte Art von “Biedermeier-Porno-Sammlung”, deren Bilder die damalige Gesellschaft zu einem günstigen Preis unterhielten.